S. Makowski / W. Müller / G. Reisig / K. Schütz :
"Ambulanten Pflege in einem stationären Betreuungskonzept am Beispiel des Projektes Pflegezentrum Rablinghausen"

1. Die besondere Atmosphäre
Essensdüfte, geschäftige Unordnung und das Flair einer belebten Küche - auf jeder Etage sind die Wohnküche attraktiver Mittelpunkt des Geschehens. Das Erleben dieser Wohngemeinschaft - mit gemütlichen Ecken und persönlichen Einrichtungsgegenständen - lässt das Gefühl, auf der"Station" eines Altenheimes zu sein, erst gar nicht aufkommen. Sogar die obligatorische Katze fehlt nicht und verstärkt das Gefühl, "bei Oma und Opa zu Besuch" zu sein.

Von solchen Eindrücken berichten vor allem neue Bewohner des Pflegezentrums Rablinghausen und deren Angehörige. Aber auch berufserfahrene Praktiker, die sich aus rein fachlichem Interesse über das Modellprojekt informieren, zeigen sich von der überraschend "anderen" Atmosphäre und den positiven Effekten dieser neuen Betreuungsform beeindruckt.


2. Überraschend schnelle Erfolge
Rehabilitations-Erfolge und positive Beispiele dauerhaften Wohlbefindens von Bewohnern gibt es natürlich auch in anderen Pflegeheimen. Ungewöhnlich sind die Vielzahl und Beständigkeit der Erfahrungen seit dem Bezug des Heimes im Dezember 1999. Gerade MitarbeiterInnen, die bereits über Vorerfahrungen in stationären Einrichtungen verfügen, nehmen diesen Unterschied deutlich wahr und berichten von erstaunlichen Entwicklungen.

Beispiele :(weitere Beispiele siehe Anlage)
Frau K. war bei Einzug bettlägerig, hatte eine Magensonde, konnte weder selbständig essen, trinken oder gehen und konnte sich nur lauthaft artikulieren. Heute sitzt sie mit in der Wohnküche, hilft bei der Zubereitung der Mahlzeiten, und ißt wieder selbständig.
Herr T. wurde Zuhause von seinen Angehörigen rund um die Uhr versorgt. Mit weit über 90 Jahren erlangte er nach seinem Einzug noch einmal die Fähigkeit zu selbständigem Essen, was sowohl MitarbeiterInnen wie Angehörige in Erstaunen versetzte.
Frau G. lebte vor ihrem Einzug allein in einer Service-Wohnung im Stiftungsdorf. Unterstützung im Alltag erhielt sie durch ihre Töchter und durch den ambulanten Pflegedienst. Wegen zunehmender dementieller Veränderungen (Minimental Status Stufe 3) war eine Versorgung in der eigenen Wohnung nicht mehr möglich. Der Umzug in das Haus fiel ihr schwer. Sie zog sich zunehmend zurück und ließ weder MitarbeiterInnen der Hauswirtschaft noch das Pflegepersonal ihr Appartement betreten. Daraufhin wurde beschlossen, daß die Pflege weiterhin von ihrer vertrauten (ambulanten) Pflegerin übernommen wird. Mit ihrer Hilfe konnte Frau G. schrittweise an die neuen Gesichter und das Alltagsleben in der Wohnküche gewöhnt werden. Heute geht Frau G. von allein in die Wohnküche und läßt auch die inzwischen vertrauten Mitarbeiterinnen des Hauses in ihr Appartement.
Ehepaar C. fiel der Umzug aus der Servicewohnung ebenfalls sehr schwer. Der Ehemann hatte den Haushalt und die Pflege seiner nach einem Schlaganfall sehr hilfsbedürftigen Frau zusammen mit dem ambulanten Pflegedienst organisiert. Nachdem er selbst an Krebs erkrankte, war er mit der Situation völlig überfordert. Die Abgabe "seiner" Aufgabe an fremde Personen fiel ihm trotzdem sichtlich schwer. Auch hier wurden in der Anfangszeit die dem Ehepaar bekannten (ambulanten) PflegerInnen in die Pflege eingebunden. Voraussetzung war ein enger Austausch mit dem Personal des Hauses, so daß Vorlieben und Eigenheiten des Ehepaares auch in der neuen (stationären) Umgebung wie gewohnt weiter laufen konnten. Heute hat sich das Ehepaar gut eingelebt und Kontakte mit anderen BewohnerInnen aufgebaut.
(Weitere ausführliche Fallbeispiele ? siehe Anlage)

Anlaß genug, einmal genauer hinzuschauen, wie solche Erfolge in der Altenpflege zu bewerkstelligen sind. Mit dem Einzug in das Pflegezentrum Rablinghausen scheinen bei den BewohnerInnen vielfach neue Lebensgeister als ?Flämmchen des Lebensmutes? erwacht zu sein. Die Eingewöhnungszeiten sind kürzer und den BewohnerInnen fällt der Übergang aus der eigenen Häuslichkeit wesentlich leichter. Auch daß Angehörige viel öfter zu Besuch kommen, sich in der Wohnküche mit Ihren Lieben wie zu Hause fühlen, sich an der Nachmittagsgestaltung beteiligen, Näharbeiten verrichten und viel leichter auch den Kontakt zu anderen Angehörigen finden, ist Ausdruck der Lebendigkeit und Offenheit des Umgangs miteinander. Soziale Integration ist unter diesen Bedingungen nicht nur hehres Ziel, sondern ein Stück gelebte Wirklichkeit.

Dies sind Erfolge, die in den Organisationsstrukturen eines traditionellen Pflegeheimes in der Regel nicht in dieser selbstverständlichen Form eintreffen. Dort sind erfahrungsgemäß weitaus mehr Kraftanstrengungen nötig, um zum Beispiel die befürchtete Hospitalisierung und den geistigen und körperlichen Abbau neuer BewohnerInnen annähernd erfolgreich zu verhindern.

Zu den Erfolgen gehören auch die überproportional häufigen Rückstufungen in der Pflegeklasse (Verringerung des Pflegebedarfes), die objektiv den Erfolg des Ansatzes belegen. Was im übrigen für das Haus zu geringeren Einnahmen und damit zu einem Problem führt, das bei den bisher noch nicht abgeschlossenen Kostensatz-Verhandlungen eine nicht unwesentliche Rolle spielt. Denn natürlich fallen solche Erfolge nicht vom Himmel, sondern sind Ergebnis eines zum Teil individuellen, hauptsächlich aber strukturellen Mehraufwandes innerhalb des Modellversuchs Wohnküchen-Konzept.

Die Rolle der nach ambulanten Kriterien erbrachten Pflege-Dienstleistung in einem neuen stationären Konzept ist in der öffentlichen Diskussion dabei bisher wenig beachtet worden. Der Blickwinkel der weiteren Betrachtungen wird sich daher im wesentlichen auf die Erfahrungen und den Input der Paritätischen Pflegedienste, die als Kooperationspartner der Bremer Heimstiftung und des Bremer Stiftungs-Service den Pflege-Part im Projekt Rablinghausen übernommen haben, beziehen.

3. Kultur der Kooperation
Aus Sicht der Paritätischen Pflegedienste (PPD) ist das Projekt unter anderem deswegen so erfolgreich, weil zwischen allen beteiligten Kooperationspartnern eine große Übereinstimmung in den "ideologischen", das heißt konzeptionellen Grundsätzen bestand:

• Stadtteilorientierung,
• Ent-Institutionalisierung und Normalisierung des Alltags,
• Offenheit nach innen und nach außen,
• Einbeziehung von Angehörigen und gewachsenen Nachbarschaften, sowie
• Individualität in Pflege und Betreuung.

Diese Übereinstimmung setzte sich in einer wechselseitigen Wertschätzung und weitgehenden Sympathie unter den verantwortlichen Akteuren bei der gemeinsamen Projektentwicklung und –umsetzung fort. Damit war eine für das gemeinsam zu erreichende Ziel unabdingbare Voraussetzung gegeben: dem eigenen Selbstverständnis entsprechend mehr und anderes als nur "Subunternehmer" eines großen Heimträgers zu sein.

4. Die Paritätischen Pflegedienste: Pflege nach ambulanten Kriterien
Pflege als "kooperierendes, den Alltag unterstützendes Handeln" war von Anfang an eine ernstgemeinte Zielsetzung, aber auch eine kleine Revolution. Das in stationären Einrichtungen eher übliche "Primat der Pflege" sollte dem Vorrang der Hauswirtschaft (sprich: der Alltagsabläufe) und dem "Primat des Wohnens" weichen. Das heißt, qualifizierte Pflegekräfte sollten in der Gestaltung des täglichen Lebens die Rolle von "Assistenten" übernehmen. Verständlicherweise war diese Umkehrung der üblichen Verhältnisse insbesondere für neue MitarbeiterInnen mit stationärer Vorerfahrung nicht so leicht. Sie befürchteten vor allem eine unterschwellige Abwertung der Pflege, während diese Zielsetzung für die an der Projektentwicklung beteiligten MitarbeiterInnen der PPD aufgrund ihrer ambulanten Erfahrungen bereits "gelebte Normalität" bedeutete. Denn eine erfolgreiche, aktivierende Pflege Zuhause kann immer nur als kooperierendes unterstützendes Handeln geschehen.


Das Prinzip der ambulanten Pflege kann idealtypisch als die effektivere und menschlichere Variante gesehen werden,

  • weil das Leben zwischen "all den Dingen und Erinnerungen" in der eigenen Wohnung dem alt gewordenen Menschen ein Stück Lebensgeschichte und Lebenssinn gegenwärtig hält;
  • weil die Bewältigung des eigenen Alltags in der eigenen Wohnung in der Regel einen sehr hohen Motivationsgrad hat;
    weil die vertraute Umgebung Halt und Sicherheit gibt;
  • weil über eine soziale Integration Bestätigung und persönliche Achtung erfolgen und
  • weil Dritte (Angehörige, NachbarschaftshelferInnen usw. ) leichter in die Versorgung integriert werden können.

Dementsprechend organisiert sich ambulante Pflege in zwei charakteristische Zielrichtungen:

1. Als Aushandlung des individuellen Pflegebedarfs bzw. des Umfangs der zu erbringenden Pflegeleistung und ihrer Vergütung mit dem Patienten (Kunden)

  • unter genauester Berücksichtigung der persönlichen Ressourcen und Unterstützungsmöglichkeiten des Umfeldes,
  • arbeitsteilig mit anderen Dienstleistern (wie Gemeindeschwester, Mahlzeitendienste, Einkaufshilfen, Notruf),
  • unter Einbeziehung persönlicher Termine und Kontakte in die Tages-/Wochen- strukturierung (wie Arzt, Kirchennachmittage, Kränzchen, Gymnastik),
  • in einem Umfang (Preis), den der Kunde für angemessen hält und

2. in der Zusammenführung zu einem individuell abgestimmten und optimierten Hilfe-Setting, das

  • die Kontinuität und Förderung der sozialen Bezüge und Bindungen beinhaltet,
  • die Aufteilung der Verantwortlichkeiten auf (mindestens) zwei Bezugspersonen, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven um das Wohl des Patienten bemühen (in der Regel: Angehörige oder Nachbarschaftshelfer für das Alltagsmanagement und Pflegekräfte für die medizinische Versorgung/Pflege) berücksichtigt und
  • eine Überversorgung bzw. Unterforderung vermeidet.

Die begrenzten Personal-Ressourcen in der ambulanten Pflege und das hohe Preisbewußtsein der Patienten (wieviel Pflege will/ kann ich mir leisten?), führen immer wieder auf das Aushandeln zwischen "Wünschenswertem, Notwendigem und Machbarem" zurück. Unter diesen Bedingungen stellt sich die Frage der Überversorgung häufig erst gar nicht. Das "Stricken" individuell optimierter Hilfe-Settings und die laufende Koordination dieses Zusammenspiels gehört zu den Arbeitsgrundlagen und damit zum professionellen Alltagsgeschäft der PPD. Die Integration in das Paritätische Versorgungsnetz erweitert die Möglichkeiten, auch auf Wünsche, die nicht pflegebezogen sind, individuell angepasst zu reagieren.
In der Konsequenz bedeutet das "ambulante Prinzip" außerdem den Verzicht auf pflegerische Allmachtsphantasien und die Rückgabe von Verantwortung an das (zugegebenermaßen im Einzelfall recht rudimentäre) soziale Netz des Patienten. Die Stärkung dieser für den inneren und äußeren Halt äußerst wichtigen Netze (Familien, Nachbarschaften, Hausgemeinschaften, Vereine, Kirchengemeinden, Begegnungsstätten usw. ) muß wiederum Aufgabe aller verantwortlichen Akteure eines Gemeinwesens sein.

5. Die Übertragung des "ambulanten Prinzips" in ein stationäres Konzept
Mit der Entscheidung der PPD, in das Kooperations-Projekt Rablinghausen einzusteigen, war die Chance gegeben, die oben beschriebene Erfahrung und Philosophie einschließ-lich der damit verbundenen Kultur des Kooperierens in das neue Projekt einzubringen.
Was war so anders zwischen dem "ambulanten Prinzip" und der "Bewohnerorientierung" in einer stationären Einrichtung und wie würde sich die reine ambulante Lehre in dem neuen stationären Modell behaupten und umsetzen lassen?

Das war die spannende gemeinsame Aufgabe, die schrittweise umgesetzt und erprobt werden mußte. Doch heute - nach einem Jahr Erfahrung in der Praxis - zeigt sich bereits, daß mehr dahinter steckt als nur ein Schlagwort und daß das "ambulante Prinzip" eine wesentliche Rolle in einem integrativen, stationären Pflege-Kontext einnimmt.

Was wird also anders gemacht?:

  • Der individuelle Pflege- und Betreuungsbedarf wird grundsätzlich mit den BewohnerInnen und ihren Angehörigen unter Beteiligung der Einsatzleitung der PPD, der Hauswirtschaftsleitung des BSS, dem Hausarzt sowie der Pflegedienstleitung (PDL) des Hauses ausgehandelt . Die sich daraus ergebende Aufgabenverteilung stellt einen "Betreuungs-Mix" dar, der die Prinzipien einer häuslichen Pflegesituation aufnimmt und professionell wie institutionell erweitert.

  • Die MitarbeiterInnen der Hauswirtschaft beteiligen sich an der Dokumentation. Damit können unterschiedliche Sichtweisen und Wahrnehmungen zu den individuellen Fähigkeiten einzelner BewohnerInnen in die Pflegeplanung (hier: Alltags-Planung) einfließen.

  • Es gibt (mindestens) zwei Stammpflege-/ Betreuungskräfte (Hauswirtschaft und Pflege), die sich - zusammen mit den BewohnerInnen und Angehörigen - gegenseitig in den Einschätzungen und Definitionen korrigieren können.

  • Kurzfristige Schwankungen im Pflegebedarf, z.B. wenn BewohnerInnen ins Krankenhaus gehen oder nach einer Rückkehr aus dem Krankenhaus ein höherer Pflegebedarf besteht, werden - schon aus Kostengründen - möglichst punktgenau gesteuert. Auch die Organisation entsprechender "Personalpuffer" ist ambulantes Alltagsgeschäft (übergreifender Einsatz bei Patienten im Stadtteil, vorübergehende Mehrstunden bei Teilzeitbeschäftigten, feste Aushilfen usw.).

  • Grundsätzlich besteht außerdem die Möglichkeit, daß neue BewohnerInnen ihre vertraute Hauspflege- oder Nachbarschaftshelferin (zumindest teilweise) nach der stationären Aufnahme weiter behalten können.
Die in allen genannten Punkten geforderte Beweglichkeit konfrontiert die im Haus tätigen Pflegekräfte immer wieder mit der Vielgestaltigkeit, Lebendigkeit und Individualität ambulanter Pflege und mit Fragen und Wünschen der BewohnerInnen, ihrer Angehörigen und aller anderen an dem Projekt beteiligten Akteure und Professionen. Mitunter anstrengend, meist bereichernd – aber auf alle Fälle ein wirksames Mittel gegen Routine und Betriebsblindheit.

6. Die Beziehung der Akteure und Professionen untereinander
Wesentlichstes Merkmal häuslicher Pflege und der Integration "ambulanter Pflege-prinzipien" in stationären Einrichtungen ist also die Kooperation und das ”In-Beziehung-Stehen” zu den anderen Akteuren des Pflegeprozesses - jene kreative Spannung, die zu einem stärkeren Bewußtsein über die einzelnen Qualitäten der Pflege- und Betreuungsleistungen bei allen Beteiligten führt. Unterschiedliche Sichtweisen und Wertungen treffen aufeinander: Professionalität und Alltagsverständnis, Fachstandards und Empathie. Auftretende Meinungsverschiedenheiten müssen im positivsten Sinne konkurrierend angenommen und produktiv genutzt werden.
Der kooperative Pflegeprozeß bietet damit zugleich die Chance, daß "alle von allen" lernen:
  • Pflegekräfte geben ihr Fachwissen an MitarbeiterInnen in der Hauswirtschaft und an Angehörige weiter. Diese profitieren von der professionell empathischen Distanz und der medizinisch-pflegerischen Erfahrung und können somit bestimmte Situationen im Alltagserleben mit den BewohnerInnen genauer zuordnen und einschätzen;
  • Pflegekräfte profitieren ihrerseits von den möglicherweise ganz anderen Beobachtungen, Erfahrungen und Erlebnissen aus der größeren Alltagsnähe der Hauswirtschaftskräfte und von der biographischen Nähe und Kenntnis der Angehörigen.
Dies gilt auch für die Pflegebedürftigen selbst. Sie werden nicht mehr zum bloßen Gegenstand pflegerischer Abläufe degradiert, sondern sollen ihren noch leistbaren Anteil tatsächlich einbringen. Diese Gleichwertigkeit und Wertschätzung führt zu beachtlichen Synergie-Effekten und zu einem Klima der Anerkennung, in dem Hauswirtschafts- und Pflegekräfte, Angehörige und andere Helfer die jeweils andere Betreuungsperson in ihrer Kompetenz und als Anwalt unterschiedlicher Interessen der BewohnerInnen besser wahrnehmen können.

Unter diesen Bedingungen bestimmen konzeptionell nicht mehr Konkurrenz, Unsicherheit und Unwissenheit die Zusammenarbeit sondern gegenseitige Aufmerksamkeit, gemeinsamer Kooperationswille und aktive Reflexion. Was zur Folge hat, dass
  • Pflegekräfte in größerer Zufriedenheit arbeiten, weil ihre pflegerische Kernkompetenz gezielt gefordert ist;
  • Hauswirtschaftskräfte mit ihrer Kernkompetenz als ManagerInnen des Alltags und der hauswirtschaftlichen Versorgung einen zentralen Stellenwert – und damit eine Aufwertung gegenüber ihrer bisherigen Position erhalten;
  • Angehörige und andere Laienhelfer in der offenen Wohnküchen-Atmosphäre einen leichteren Zugang zum Mittun finden. Sie können eigene Beiträge einbringen - ohne das lähmende Gefühl von idealisierter Selbstverpflichtung oder Konkurrenz zu den professionellen Betreuungskräften zu fürchten;
  • die Einmischung und Korrektur (aber auch Unterstützung) von Angehörigen und Freunden der Bewohner nicht mehr abwehrend sondern als Normalität erlebt wird.
  • eine ständige Selbstüberprüfung stattfindet, die sich auch auf die wirtschaftlichen Aspekte des Pflegeprozesses im Spannungsfeld zwischen "Notwendigkeit, Leistbarkeit, Kosten und dem vereinbarten Pflege-/Betreuungsziel" erstreckt;
  • BewohnerInnen die notwendige Achtung und Aufmerksamkeit erfahren und ihre Selbstbestimmung über den ganz normalen Alltag behalten.

7. Die in den Pflege- und Betreuungsprozeß eingebundene
"dynamische Qualitätsentwicklung"

Für alle Projekt-Beteiligten war das ständige "Beobachtet-Werden" in diesem Prozeß zunächst eine ungewohnte emotionale Belastung. Die Auswertung des Beobachteten verursachte zudem einen zeitlichen Mehraufwand, der erst noch als hilfreich und nützlich im Sinne einer größtmöglichen Unterstützung der BewohnerInnen erkannt werden mußte. Es erforderte daher auch eine neue Kultur professioneller Kommunikation unter den Beteiligten, ohne die diese "neue Qualität" nicht erreicht worden wäre.
Von besonderer Bedeutung war dabei die gemeinsame Dokumentation. Wie im ambulanten Bereich sind - mit Ausnahme der Präsenz-MitarbeiterInnen - die Pflegekräfte in der Regel nur zu den Zeiten, für die sie einen Pflegeauftrag haben, anwesend. Ein zeitnaher persönlicher Austausch mit allen an der Betreuung und Pflege eines Bewohners beteiligten Personen ist daher nicht immer gegeben. Die Niederschrift aller erbrachten Leistungen, wichtigen Vorkommnisse und Erfahrungen ist daher schon deshalb unabdingbar und mußte nun auch auf die zentral gewordene Rolle der Hauswirtschaftskräfte ausgedehnt werden. Ihre Alltagsbeobachtungen bilden gemeinsam mit der Planung der medizinisch-pflegerischen Versorgung die Grundlage für eine erweiterte Alltagsplanung, deren Ziel die umfassende Aktivierung der BewohnerInnen ist.

In der Auswirkung auf die Betreuungsqualität bei den einzelnen BewohnerInnen hat daher dieser pragmatische Ansatz auch weitreichende inhaltliche Konsequenzen, die zu einem sich selbst regulierenden Vorgang "dynamischer Qualitätsentwicklung" führen, der sich immer wieder erneuert. Voraussetzung ist jedoch, dass dieser Austausch der verschiedenen Betreuungsrepräsentanten als wirksames Instrument zur Anpassung individueller Pflege und Förderung begriffen und beibehalten wird.
Denn gerade in der Anfangsphase war die Gefahr, sich immer wieder in stationären Strukturen und "Fallen" zu verfangen, besonders groß. Daher muss auch dann, wenn die Gegensteuerung durch externe Beratung nicht mehr gegeben ist, die verpflichtende Rückbesinnung aller Beteiligten und die Vergegenwärtigung der ursprünglichen Konzeptzielsetzung mit ihrem Bezug auf die besonderen Qualitäten ambulanter Pflege immer wieder erneuert werden.

8. Zusammenfassung
Drei zentrale Entscheidungen waren wichtige Voraussetzung für die bisherigen Erfolge des Modellprojektes:

  • Die Umsetzung "ambulanter Prinzipien" mit einem ambulanten Pflegedienst (und nicht durch Pflegekräfte des Heimträgers) – weil die MitarbeiterInnen bereits wesentliche Voraussetzungen für die "neue Rolle von Pflege" in einer stationären Einrichtung mitbrachten.
  • Die Positionierung der Hauswirtschaft mit einer eigenständigen zentralen Aufgabenstellung (ManagerInnen des Alltags) – und der sichtbaren Präsenz dieser Veränderung durch die Wohnküchen.
  • Die Übereinstimmung in den konzeptionellen Grundsätzen und eine partnerschaftliche Kooperationsstruktur, die auch von dem gemeinsamen Willen, entstehende Schwierigkeiten ohne schuldzuweisende Konfrontation zu lösen, getragen wird.

Auf dieser Basis konnten sich dann die zuvor beschriebenen "neuen Qualitäten" entwickeln, die jedoch kein Wert an sich sind, sondern daran gemessen werden, was als spürbare Veränderung bei BewohnerInnen ankommt.

Grundsätzlich sollten sich die Ziele einer "guten Pflege" nicht in der bloßen Sicherstellung von Grundfunktionen und in der gelungenen Ausführung der Aktivitäten des täglichen Lebens (ATL‘s) erschöpfen. Die Bedingungen für "Glück" (oder weniger pathetisch: Wohlbefinden) am Ende eines Lebens lassen sich eher mit Begriffen wie Selbstbestimmung und Würde, aber auch Heimat und Sinn des Lebens umschreiben. MitarbeiterInnen für ein solches Menschenbild zu sensibilisieren, aber auch die organisatorischen Voraussetzungen für die Übertragung dieser Sichtweise in die Alltagswirklichkeit zu entwickeln, muß in allen Arbeitsbereichen höchste Priorität genießen.

Pflege kann zwar auch in diesem Sinne nicht das "Glück" ihrer Patienten sicherstellen. In dem Maße wie sie jedoch neben Fachkompetenz Menschlichkeit, Verständnis und Einfühlsamkeit vermitteln kann, steigt die Chance, daß sich BewohnerInnen - wenn auch nicht glücklich - so doch (mehr oder weniger) zufrieden als Teil einer Gemeinschaft erleben, in der sie auch als einzelner Mensch "zählen". An diesen Bedingungen und Aspekten menschlichen Wohlbefindens (Lebensqualität) im Alter will sich daher das neue Konzept messen lassen.

Die ambulante Grundidee vom Patienten als "Kunden" (Vertragspartner), mit dem die näheren Umstände des Pflegeeinsatzes abzustimmen sind und der so auch für eventuelle Versorgungs"lücken" (mit)verantwortlich ist, verlangte in der Umsetzung auf das Projekt Rablinghausen eine Modifizierung. Obwohl viele von ihnen in der Realität nicht bzw. nicht immer souveräne Kunden sind, müssen die BewohnerInnen auch hier in allen Belangen ernst genommen und ganzheitlich betrachtet werden. Daher wird auch nur dort, wo es nötig ist, der jeweilige Versorgungsauftrag vertretungsweise zwischen Angehörigen und Dienstleistern abgestimmt.

Diese gleichberechtigte Einbindung Dritter in Entscheidungen, bei denen BewohnerInnen ihre Rolle als Kunde nicht mehr bzw. nur mit Unterstützung wahrnehmen können, führt bei den einzelnen Betreuungspersonen zu einer Entlastung und gleichzeitig zu einer neuen Form von Verantwortung - weil die Legitimation dieser Vertretung immer wieder reflektiert und neu begründet werden muß. Außerdem ergibt sich aus der "Verteilung auf viele" eine (gewollte) Reduzierung von Definitionsmacht, da der Bewohner als Kunde bei Bedarf mehrere Anwälte hat, die für ihn sprechen und entscheiden und in dieser Funktion aber auch Verantwortung übernehmen.

Ein weiterer Punkt ist die Rücknahme der bisherigen Bedeutung von Pflege auf ein notwendiges Maß und die Abgabe von Aufgaben und Verantwortung auf andere Dienstleister (zu Hause: die Familie, in Rablinghausen: insbesondere die Hauswirtschaftskräfte). Gleichzeitig erhält die Fachlichkeit der Pflegekräfte innerhalb des Projektes eine neue, sehr anspruchsvolle Rolle. Sie werden zu Casemanagern, deren Beratungskompetenz und Strukturierungshilfe bei der Pflege-/Tagesplanung die Zusammenführung der einzelnen Abläufe steuert und transparent (hinterfragbar) macht.

In der Zusammenfassung der bisherigen Erfahrungen des Projektes lassen sich einige Themen deutlich benennen, deren Wirksamkeit aber auch für die Zukunft überprüft und nachvollzogen sein will:
  • Ein gesteigertes Bewußtsein aller Betreuungspersonen für die Integrität des Bewohners (Ganzheitlichkeit des Menschen, Würde der Biographie, Vermeidung der Reduzierung auf defizitäre Aspekte).
  • Die Vermeidung von Überversorgung (die häufig Ersatz fast aller bisherigen Bezüge durch Pflegepersonal im traditionellen Heim ist).
  • Die Respektierung, wenn BewohnerInnen etwas nicht wollen.
  • Die Förderung von Kompetenzen durch geduldige Ermunterung zu Eigenaktivität und Mittun.
  • Das Leben in einer Atmosphäre häuslicher Normalität und der damit als weniger problematisch erlebte Übergang von der eigenen Häuslichkeit ins Pflegeheim (man trifft auf viel Vertrautes, das die eigene Sicherheit stärkt).
  • Die selbstverständliche Einbindung von Angehörigen, Freunden, Nachbarschaften.
  • Eine höhere Betreuungs-/Pflegequalität durch individuell angepasste und ständig reflektierte Bedarfsplanung.
  • Die bewohnergerechte Steuerung und Transparenz des Mitteleinsatzes (nicht ”Gießkannen-Prinzip” sondern eine "intelligente Steuerung” individuell ausgehandelter Pflege- und Betreuungsleistungen).
  • Die Respektierung dessen, was "leistbar" ist (repräsentiert durch die in Auftrag gegebenen Pflegestunden des Einrichtungsträgers).

9. Ausblick
Nach fast eineinhalb Jahren kann die optimistische Einschätzung gewagt werden, daß der Konzeptansatz in Rablinghausen ein wichtiger Beitrag zu mehr Offenheit und Transparenz in der Altenpflege ist, ein Schritt auf dem Weg in Richtung gläsernes Heim und damit eine Waffe gegen Unkenntnis, Mißstände, Pflegenotstand und deren Tabuisierung. Das "ambulante Prinzip" in stationären Einrichtungen stellt sich als ein funktionierendes, zukunftsweisendes Konzept in der Altenpflege dar, das eine neue Qualität individueller Betreuung möglich macht. Die starre Grenze ambulant/stationär kann dadurch zunehmend aufgelöst werden, fließendere Übergänge zum Wohle pflegebedürftiger Menschen werden greifbarer. Und ganz sicher gibt es eine Entsprechung zwischen Bewohner- und Mitarbeiterzufriedenheit - und zwar in beide Richtungen. Auch hierfür hat das Modellprojekt Rablinghausen Nachweise erbracht.
Das wird keine Selbstzufriedenheit auslösen, denn das Erreichte muß bewahrt und weiter entwickelt werden. Es zeigt sich jedoch, dass eine Ausweitung des Tätigkeitsfeldes ambulanter Pflegedienste durch die Kooperation mit stationären Trägern machbar ist – was möglicherweise zu einer ganz neuen Sichtweise bei der Verschmelzung stationärer und ambulanter Betreuung zu einem ganzheitlichen System in der Altenpflege führt.

27.02.2001

Anlage

Fallbeispiele für Erfolge aktivierender Pflege im Pflegezentrum Rablinghausen

1. Frau St., Jahrgang 1920
Kurzbiografie: Fr. St. erlitt auf dem Weg zum Frisör einen schweren Autounfall. Sie kam mit Knochenbrüchen und Prellungen für vier Monate ins Krankenhaus und lag anfangs im Koma, später für längere Zeit auf der Intensivstation. Die Aufnahme in das Pflegezentrum erfolgte im April 2000.
Ihr damaliger Zustand: Frau St. war stark abgemagert, hatte Dekubitalgeschwüre am Ober- und Unterschenkel, an den Fersen und am Hinterkopf. Aufgrund der langen
Bettlägerigkeit im Krankenhaus litt sie außerdem unter Spitzfüßen. Gehen und Stehen war daher nicht mehr möglich. Auf Fragen antwortete sie lediglich mit "ja oder nein" und laut Krankenhausbericht war Frau St. zeitlich, örtlich und situativ desorientiert.
Pflegemaßnahmen: Es wurde mit einer behutsamen, sehr aufwendigen Grund- und Behandlungspflege begonnen. Aufgrund der Schockeinwirkung (posttraumatisches Syndrom) schrie Frau St. Tag und Nacht minutenlang "Haara, Haara". Die Mitbewohner und direkten Nachbarn konnten diesen Lärm nur schwer ertragen und beschwerten sich.
Mobilisation: Bereits nach zwei Tagen wurde Frau St. mit Hilfe eines Rollstuhls mobilisiert. Sie wurde mit der Umgebung vertraut gemacht und zur Einnahme der Mahlzeiten in der Wohnküche angeregt.
Hauswirtschaft: In gemeinsamen Besprechungen zwischen Pflege und Hauswirtschaft wurden die Bedeutung und die Ursache für das Schreien ermittelt. Die Worte "Haara, Haara" standen in engem Zusammenhang mit dem Frisörbesuch. Daraufhin wurde Frau St. von der Hauswirtschaft ermuntert, beim Malen mitzumachen. Sie zeichnete immer wieder gesichtslose Köpfe (Kreise) mit langen Strichen (Haare).
Weiterer Verlauf: Nach Absprache mit der Tochter, die Frau St. regelmäßig besuchte, wurde eine Neurologin hinzugezogen, die helfen sollte, die Angstzustände zu mindern. Nach drei Wochen zeigte die eingesetzte Medikation ihre Wirkung. Das Schreien hörte auf, Gespräche wurden möglich.
Nach ca. vier Wochen waren die Dekubitalgeschwüre abgeheilt und Frau St. war in der Lage, kleine hauswirtschaftliche Tätigkeiten auszuführen. Anfangs dauerte es eine Stunde, bis sie ein Ei abgepellt hatte. Die nicht nachlassende Geduld der Pflege und Hauswirtschaft – und vor allen Dingen von Frau St. selbst – führte bald zu außerordentlichen Erfolgen.
Nach acht Monaten löste Frau St. Kreuzworträtsel, sah wieder fern und konnte sich an ihren Unfall erinnern und darüber sprechen. Sie kümmerte sich um dementiell erkrankte Mitbewohner (schmierte Brot für sie usw.), trocknete Geschirr ab und nahm an gemeinsamen Aktivitäten teil. Sie legte wieder Wert auf ein gepflegtes Äußeres und zieht sich jetzt – soweit möglich – wieder selbst an. Wegen der Spitzfüße wird sie jedoch wahrscheinlich nie wieder laufen können – ein Problem, das Frau St. sehr zu schaffen
macht.

2. Frau K, Jahrgang 1922
Kurzbiografie: Frau K. erlitt zu Hause einen Schlaganfall und lag 48 Stunden besinnungslos in ihrer Wohnung, bis sie von ihrer Tochter gefunden wurde. Davor wurde sie von einem Hauspflegeverband und von ihren sechs Kindern regelmäßig betreut. Die Aufnahme in das Pflegezentrum erfolgte im Juli 2000 – direkt aus dem Krankenhaus.
Ihr damaliger Zustand: Bettlägerig, mit PEG-Sonde (erhielt im Krankenhaus nur Sondennahrung), Dauerkatheter, Dekubitus, starker Hüftschmerz, Angstzustände und starke Unruhe, weil sie einen neuen Schlaganfall befürchtete. Frau K. litt unter Schlaflosigkeit und klingelte nachts ständig.
Pflegemaßnahmen: Anfangs erfolgte die Ernährung über Sonde. Zusätzlich wurde ihr jedoch feste Nahrung angeboten. Die Auswahl (Weissbrot, Kartoffelbrei, Soße) erfolgte nach ihren eigenen Wünschen. Nach 14 Tagen nahm Frau K. regelmäßig an den Mahlzeiten in der Wohnküche teil. Da sie nicht viel trank, erhielt sie anfangs eine zusätzliche Flüssigkeitszufuhr über die Sonde. Vier Wochen später aß und trank sie selbständig. Nach sechs Wochen konnte die PEG ganz abgesetzt werden.
Hauswirtschaft: Die Hauswirtschaft nahm große Rücksicht auf die individuellen Essenswünsche. Außerdem brachten die Angehörigen außer der Reihe "Wunschessen" mit. Der Ernährungszustand verbesserte sich stetig.
Mobilisation: Bereits nach zwei Tagen wurde Frau K. in den Rollstuhl gesetzt und mit der Umgebung vertraut gemacht. In Zusammenarbeit mit der Hausärztin, einer Neurologin und den Angehörigen wurde alles unternommen, um ihre Angst und Unruhe zu mindern. Dabei half, dass Frau K. sehr gut in der Lage ist, über ihre Gefühlslage und ihre Ängste zu sprechen. Die ersten Gehversuche mit einem Rollator gestalteten sich äußerst schwierig. Nur mit großer Geduld und Zuspruch durch die PflegemitarbeiterInnen und die Krankengymnastin konnten ihre Ängste abgebaut und der gewünschte Erfolg erreicht werden.
Weiterer Verlauf: Seit November läuft Frau K. allein am Rollator. Kleine "Ausflüge" mit ihren Angehörigen in das Restaurant des Siftungdorfes steigerten die Lebensfreude. Im Dezember war Frau K. in der Lage, nachts allein den am Bett stehenden Toilettenstuhl zu benutzen. Heute geht sie ohne Hilfe zu den Mahlzeiten, knüpft Kontakte zu MitbewohnerInnen und nimmt an allen gemeinsamen Aktivitäten teil.

3. Frau N., Jahrgang 1910
Kurzbiografie: Frau N. wohnte - zusammen mit ihrem stark dementiell veränderten Mann - in der eigenen Wohnung. Beide wurden über Hauspflege und von den beiden Kindern betreut. Nach mehren Stürzen kam Frau N. im Oktober 1999 ins Krankenhaus. Die Entlassung erfolgte im November, danach erneuter Sturz mit anschließendem Krankenhaus-Aufenthalt bis Dezember. Gleichzeitig verschlechterte sich der Gesundheitszustand ihres Mannes, er musste ebenfalls ins Krankenhaus. Eine Rückkehr in die eigene Wohnung schien ausgeschlossen. Daher wurde ein Heimplatz für das Ehepaar gesucht. Nach dem Krankenhaus-Aufenthalt wurde das Ehepaar vorübergehend in einer Kurzzeitpflege versorgt. Die Aufnahme in das Pflegezentrum erfolgte im Januar 2000. Beide Ehepartner bezogen jeweils ein Einzelzimmer.
Ihr damaliger Zustand: Frau N. konnte aufgrund stärkster Schmerzen bei jeder Bewegung nicht laufen. Erst jetzt wurden Knochenbrüche (Becken und Wirbel) festgestellt. Herr N. (Morbus Alzheimer im fortgeschrittenen Stadium) hielt es in seinem Zimmer nicht allein aus, er war ständig auf der Suche nach seiner Frau - seinem einzigen Bezugspunkt, an den er sich erinnern konnte. Er wich nicht von ihrer Seite, was für Frau N. eine enorme Belastung war, da sie nie zur Ruhe kam - und eine zusätzliche psychische Qual, da sie nicht wußte, wie sie ihrem Mann helfen sollte. Hinzu kam ihr schlechtes Gewissen, wenn sie ihm gegenüber eine ablehnende Haltung annahm.
Pflegemaßnahmen: Im Krankenhaus erhielt Frau N. stark sedierende Medikamente, die dazu beitrugen, daß sie nicht mehr orientiert wirkte und sich nicht mehr äußern konnte. Die Schmerzmedikation wurde daraufhin verändert, so dass im Zusammenwirken mit Hausärztin, Orthopäden und Angehörigen eine Besserung dieses Erscheinungsbildes erzielt werden konnte.
Hauswirtschaft: Die Hauswirtschaft versuchte - zusammen mit der Pflege und den Kindern des Ehepaares - Herrn N. wenigstens für einige Augenblicke von seiner Frau fern zu halten, damit sie Entspannung fand.
Weiterer Verlauf: Innerhalb von zwei Monaten erholte sich Frau N. sowohl geistig wie auch körperlich. Die Schmerzen ließen etwas nach, das Gehen am Rollator war möglich. Im September 2000 verstarb Herr N. Es war für alle Beteiligten eine große Herausforderung, Frau N. mit ihrem Kummer und ihrer Trauer nicht allein zu lassen, sie zu unterstützen und ihr beizustehen.
Weihnachten, eine Zeit der Erinnerung an frühere gemeinsame Jahre mit ihrem Mann, bewirkte einen gesundheitlichen Rückschlag: Zunahme der Schmerzen, Depression.
Seit Januar 2001 gewann Frau N. an Lebensmut. Zusammen mit ihrer Tochter und ihrem Sohn unternimmt sie regelmäßig kleine Ausflüge. Frau N. geht jeden Tag, bei Wind und Wetter - auch allein - spazieren. Sie ist jetzt in der Lage, über ihren Mann zu sprechen und empfindet seinen Tod nun als Erleichterung.
Schmerzfrei wird sie nie wieder sein, doch ihr seelischer und geistiger Zustand, ihre Willenskraft und ihr Mut, Selbständigkeit zu entwickeln und zu erhalten, helfen bei der Überwindung, Schmerzen zu ertragen und damit zu leben. Ein besonders wichtiger Aspekt: sie fühlt sich bei uns Zuhause!

4. Frau T., Jahrgang 1925
Kurzbiografie: Frau T. lebte allein in ihrer Wohnung. Nach einem Schlaganfall, starken Blutzuckerschwankungen (Diabetes mellitis) und damit einhergehenden Begleiterkrankungen kam sie auf eigenen Wunsch zu uns.
Frau .T. hat sechs Kinder und lebte trotzdem völlig isoliert. Sie hielt sich nicht an die verordnete Diät und aß ohne Kontrolle. Bei Einzug wog sie fast 100 kg. Sie war ungepflegt und ihre Haut wies entsprechende Entzündungen auf. Außerdem wirkte Frau T. still und zurückhaltend und sprach kaum. Die Aufnahme in das Pflegezentrum erfolgte im Januar 2000.
Pflegemaßnahmen: Frau T. schämte sich ihrer Fettleibigkeit und verweigerte Hilfe bei der Körperpflege durch das Pflegepersonal. Dieses Problem wurde mit ihrer Tochter. besprochen. Sie kam, seit Frau T. bei uns war, regelmäßig. Zusammen mit der Tochter duschten wir Frau T. und bauten langsam den Kontakt zu ihr auf. Wir versuchten, ihr Vertrauen zu gewinnen, damit sie ihre Scham hinsichtlich der Körperpflege überwand. In der ersten Zeit wurde Frau T. im Wechsel von zwei Pflegekräften betreut.
Hauswirtschaft: Nach zwei Monaten ließ sich Frau T. auf Gespräche ein und stellte selbst Fragen. Sie fing an, mit Hilfe der Hauswirtschaft - zusammen mit der Pflege und dem Arzt - ihr Gewicht zu reduzieren. Sie wurde wöchentlich gewogen und der Blutzucker regelmäßig kontrolliert. Sie nahm 10 kg an Gewicht ab und ließ auch regelmäßige Körperpflege zu.
Weiterer Verlauf: Von allen Seiten wurde Frau T. ermuntert so weiterzumachen. Sie genoß die Komplimente hinsichtlich ihres Aussehens und ihrer Gewichtsabnahme. Frau T. legte plötzlich sehr viel Wert auf ihr Äußeres, ging regelmäßig zum Frisör und ließ sich von ihrer Tochter Kostüme bringen, die sie schon lange nicht mehr tragen konnte.
Mittlerweile duscht sie sich selbständig, organisiert ihre Zeit, geht spazieren, knüpft Kontakte und kümmert sich um BewohnerInnen, die auf Hilfe angewiesen sind. Sie bekommt Besuch von ihren Kindern und von ehemaligen Nachbarn.
Wir wissen jetzt, daß Frau T. selbst den Kontakt zu ihren Mitmenschen abbrach. Sie zog sich zurück in ihre Einsamkeit, um niemanden zu belästigen, ignorierte ihre schwere Blutzuckerkrankheit, lehnte Arztbesuche und jegliche Hilfe von außen ab.